Abstract
Aus dem Spannungsverhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Fakten und Fiktion, das seine Autobiographie charakterisiert, ergeben sich Einblicke in Günter Grass’ Methode, die er „Vergegenkunft“ genannt hat. Diese Schreibhaltung wird in diesen Text aktualisiert und demonstriert: In Beim Häuten der Zwiebel blickt er nochmals „aus der Gegenwart heraus in die Vergangenheit zurück“ wodurch er die persönliche Erinnerung thematisiert; wie sie den Imperativen der Gegenwart unterstellt ist, wie aktuelle Affekte, Motivationen und Intentionen des erinnernden Ichs über Erinnern und Vergessen bestimmen und wie die Erinnerung in Fiktion übergeht. Vor allem drückt er in diesem Text aus, wie sehr die Handlungen seiner Jugend ihn verfolgt haben und wie die Schuld die Zeit überdauert.
Grass wollte die Leerstellen seiner Geschichte füllen und hat seine eigene persönliche Vergangenheitsbewältigung thematisiert. Bei dieser Erinnerungsarbeit stieß er aber auf Probleme und wurde wegen der Unzuverlässigkeit der Erinnerung gezwungen, die Leerstellen aufzuzeigen, nur die Oberfläche zu beschreiben und ebenfalls das Vergessen darzustellen und zu befragen. Das ‚Warum’ der Geschichte wird kaum beantwortet, vielmehr dreht es sich darum, wie der Autor sich zu dieser Frage in den Jahren danach verhalten, und wie es sein Leben beeinflusst hat. Wie die Lieder seiner Kindheit und der Granatsplitter in der Schulter hat sich sein Versäumnis in seinem Körper und Bewusstsein festgehakt. Es lässt sich daraus lesen, wie die Vergangenheit nicht nur auf die Gegenwart einwirkt, sondern wie Emotionen der Vergangenheit in der Gegenwart weiterhin präsent bleiben.
Durch die zentralen und komplexen Metaphern im Roman zeigt Grass die Stärke der Metapher als literarischen Kunstgriffs, und vermittelt einen Glauben daran, dass es im Fiktionalen möglich ist, zu einer breiter angelegten aber dennoch authentischen Darstellung der Erinnerung (und der Vergangenheit) zu gelangen. Grass hat Metaphern konstruiert, die vor allem eine Überzeugung vermitteln, dass es möglich wäre, das Vergangene wiederherzustellen. Er verwendet aber auch die Metaphern, um die Unzuverlässigkeit der Erinnerung darzustellen und ein grundsätzliches Misstrauen seinen Erinnerungen sowie der Wahrhaftigkeit der Geschichte gegenüber auszudrücken.
Das Häuten der Zwiebel wird ein Bild für eine Erinnerungshandlung, die es zu Stande bringt, die Chronologie umzukehren und die Erinnerung rückläufig zu lesen. Grass stellt dar, wie die Vergangenheit durch eigene Erinnerungsarbeit und durch Schreiben wieder anschaulich und greifbar wird. Dass die Erinnerungen teilweise unverfügbar und unkontrollierbar sind, kommt aber auch durch die Zwiebel als Erinnerungsmetapher zum Vorschein. Nicht nur das Vergangene, sondern die Schwierigkeiten, Vergangenes zu erzählen, bilden in der Autobiographie das Hauptthema, weil die Erinnerung an bestimmten Ereignissen in der Vergangenheit scheitert. Dies wird vor allem durch die undeutliche und unablesbare Zwiebelschrift dargestellt.
In der Autobiographie stellt Grass die Fiktionalisierung in Frage und zeigt wie sie die Geschichte und die Vergangenheit strukturiert, wie sie eine Darstellung des Vergangenen ermöglicht, aber auch wie sie den Wahrheitsgehalt der (individuellen) Geschichte verdreht und verändert. Nicht nur ein grundlegender Zweifel am Erinnerungsvermögen kommt im Text zum Vorschein, sondern es wird auch ein grundsätzliches Misstrauen ausgesprochen, ob es überhaupt möglich sei, eine wahre Geschichte zu erzählen. Es stellt sich die allgemeine Frage, was als eine wahre Geschichte angesehen werden kann, oder wie wir auf Gedächtnis und Vergangenheit zurückgreifen können, wenn wir doch eingestehen müssen, dass wir keine Erinnerungen besitzen? Und: Wie werden historische Erfahrungen durch die künstlerische Einbildungskraft umgeformt? Es könnte behauptet werden, dass Grass mit seiner Autobiographie die Absicht hatte, die Fiktionalität aller sogenannten „wahren“ Biographien zu zeigen und zugleich die Authentizität seiner eigenen Fiktionswelt ein für allemal hervorzukehren.